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Spinnenseide: Neue Möglichkeiten für die Reparatur von Nerven

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Newrotex harvests silk from Golden Orbweb spiders - 1Newrotex harvests silk from Golden Orbweb spiders - 2

Die Reparatur von Nervenschäden zählt zu den besonders anspruchsvollen medizinischen Herausforderungen. Dabei eröffnet der Einsatz von Spinnenseide völlig neue Möglichkeiten. Die Gewinnung dieser feinen Seide erfordert ein hochpräzises, langsam arbeitendes Aufwickelsystem, welches die empfindliche Struktur für medizinische Anwendungen bewahrt. Gemeinsam mit dem Kunden Newrotex hat maxon eine maßgeschneiderte Lösung entwickelt, die diesen Anforderungen gerecht wird.

Spinnen sind für viele Menschen unangenehm – doch sie besitzen Eigenschaften, die den Menschen zugutekommen können. Besonders bei Nervenschäden eröffnet eine neue Entwicklung, an der maxon beteiligt ist, vielversprechende Möglichkeiten: Spinnenseide kann die Nervenreparatur in einem bislang unerreichten Maße verbessern. 

Newrotex, ein Medizintechnik-Start-up mit Gründern von der Universität Oxford in England, verwendet Spinnenseide im menschlichen Körper, um die Regeneration des peripheren Nervensystems zu unterstützen – also jener Nerven, die außerhalb von Gehirn und Wirbelsäule verlaufen.

Nervenschäden entstehen häufig durch Traumata. Nur etwa 60 Prozent der Betroffenen kehren innerhalb eines Jahres an Ihren Arbeitsplatz zurück. Nervenschäden können aber auch infolge rekonstruktiver Eingriffe entstehen – etwa bei der Entfernung von Tumoren. Dieses Risiko wird oft bewusst in Kauf genommen, obwohl die Folgen von Nervenschäden erheblich sein können. 

Derzeit sind die Heilungsaussichten nach einer Operation zur Behandlung von Nervenschäden eher begrenzt. Bei der als Standard geltenden Methode, dem sogenannten „Autografting“, wird ein Nerv aus einem anderen Körperteil entnommen und in den geschädigten Bereich implantiert.

In der Regel führt die Operation jedoch nur in etwa der Hälfte der Fälle zu einer Wiederherstellung der normalen Kraft oder des normalen Nervengefühls. Zudem ist mit der Entnahme eines Spendernervs eine Komplikationsrate von 27 Prozent verbunden, einschließlich Problemen wie chronischen Wunden und anhaltenden Schmerzen.

 
Newrotex Silk Axons - the finished product

Newrotex Seiden Axone: Das Endprodukt

Axone schließen die Lücke

Eine alternative Methode zur Rekonstruktion von Nervenverletzungen ist der Einsatz künstlicher Leitstrukturen, die das Nachwachsen der Axone unterstützen sollen. Diese Methode stößt jedoch insbesondere bei größeren Defektstrecken an ihre Grenzen – vor allem wenn die zu überbrückende Distanz einen Zentimeter überschreitet.

Bei einer Durchtrennung des Nervs kommt es zum Absterben des distalen Nervenendes. Zwar sind die Axone grundsätzlich zur Regeneration fähig, jedoch ist die Geschwindigkeit, mit der sie wachsen, von entscheidender Bedeutung. 

Der Körper bildet eigene Gerüststrukturen, entlang derer sich die Nervenfasern regenerieren können. Allerdings handelt es sich hierbei um einen Wettlauf gegen die Zeit: Diese Gerüste sind nur für etwa 10 bis 14 Tage stabil, bevor sie sich auflösen. Die Axone wachsen mit einer Geschwindigkeit von ungefähr 1 Millimeter pro Tag.

Wenn die Nervenfasern die Lücke nicht rechtzeitig schließen, kann sich der Nerv nicht wieder verbinden. Zusätzlich erschwert abgestorbenes Nervengewebe den Fortschritt der Axon-Regeneration sowie die Neubildung von funktionellen Nervenstrukturen, was den Heilungsprozess weiter behindert.

Weitere erprobte Ansätze, wie die Implantation von Spendernerven aus Leichengewebe, haben sich als kostenintensiv erwiesen und bieten im Vergleich zur Eigenimplantation keine besseren Erfolgsaussichten. Es existieren zudem Techniken zur Reparatur des äußeren Leitungsrohrs, das die Axone umgibt, doch diese Implantate haben sich bei Patienten mit Nervendefekten von mehr als einem Zentimeter Lücke bislang nicht als erfolgreich erwiesen.

Die Medizin besinnt sich nun auf eine seit Jahrtausenden bewährte Technik zur Wundbehandlung: Seide – ein haltbares und biokompatibles Material. Newrotex führt derzeit umfangreiche Versuche durch, um die klinische Wirksamkeit, der von Spinnen produzierten Seidenstränge als Stützstruktur für das Wachstum der Axone nachzuweisen. Dabei wird die Spinnenseide in einem speziellen Schlauch verwendet, der den geschädigten Nervenbereich überbrückt und an beiden Enden durch eine Naht fixiert wird.

Die Axone des Nervs wachsen entlang der Spinnenseide und ermöglichen so die Wiederverbindung des Nervs. Das Röhrchen kann entweder aus einem bereits auf dem Markt erhältlichen Hohlröhrchen oder aus einer entnommenen Vene bestehen. Eine Variante des Hohlröhrchens aus Spinnenseide befindet sich bereits in der Entwicklung.

Die Vorteile von Spinnenseide

Spinnenseide verbessert die Erfolgsaussichten bei der Nervenreparatur erheblich, da sie über mehrere Monate an der verletzten Stelle verbleibt, bevor sie sich biologisch abbaut. Dadurch bleibt den Axonen deutlich mehr Zeit zur Regeneration. Das Hohlröhrchen ermöglicht eine ungehinderte und zielgerichtete Axonregeneration. Mit dieser innovativen Methode können Nerven auf Distanzen von bis zu 20 cm regeneriert werden – ein Fortschritt, der mit bisherigen Techniken nicht erreichbar war.

Dr. Alex Woods, Gründer und CEO von Newrotex

“Eine vollständig einsatzbereite Lösung erleichtert die Integration und schafft die Voraussetzung für ein Plug-and-Play-Gerät. Das bedeutet, dass Patienten schneller behandelt werden können – und man ist nicht auf eine kleine Zahl hochspezialisierter Chirurgen angewiesen.“

Dr. Alex Woods, Gründer und CEO von Newrotex sowie Facharzt für Unfallchirurgie und Orthopäde, beschreibt es so: “ Eine vollständig einsatzbereite Lösung erleichtert die Integration und schafft die Voraussetzung für ein Plug-and-Play-Gerät. Das bedeutet, dass Patienten schneller behandelt werden können – und man ist nicht auf eine kleine Zahl hochspezialisierter Chirurgen angewiesen.“ Durch die einfache Handhabung könnten künftig auch Chirurgen aus anderen Fachbereichen, in denen Nervenschäden auftreten, die Behandlung selbstständig und unmittelbar durchführen.

Im Laufe der Zeit löst sich das Röhrchengehäuse zusammen mit der Seide vollständig auf, so bleibt nichts zurück außer dem natürlich regenerierten Nerv. Nachdem die medizinische Wirksamkeit in zahlreichen Tierversuchen überzeugend nachgewiesen wurde, befindet sich die erste klinische Studie am Menschen in Planung.

Die Gewinnung der Spinnfäden

Die Gewinnung der Spinnenseide ist ein komplexer Prozess – zusätzlich stellt die Umwandlung der natürlichen Fäden in ein kontrollierbares, biokompatibles Implantat eine erhebliche technologische Herausforderung dar. Ziel ist es, ein sicheres und wirksames Medizinprodukt für den Einsatz am Menschen zu schaffen.

"Wir verwenden die Seide der Goldenen Seidenspinne, weil diese bereits umfassend erforscht ist“, erklärt Alex Wood. „Wir kennen die Eigenschaften der Seide genau. Auch die Haltungsbedingungen der Spinne sind bekannt - dazu zählen eine lange Lebensdauer und eine hohe Seidenproduktion.“

Die Weibchen dieser Art können bis zu 15 cm groß werden und weben Netze mit einem Durchmesser von bis zu einem Meter. Newrotex fokussiert sich auf die Fangseide, welche die Spinnen zur Fortbewegung und zum Abseilen verwenden.

„Unser Interesse an der Fangseide ergibt sich aus ihrer biologischen Abbaubarkeit, der Fähigkeit von Axonen, entlang ihrer Proteinstruktur zu wachsen, sowie der Möglichkeit, große Mengen davon aufspulen zu können“, erklärt Alex Woods.

Für die Seidengewinnung wird die Spinne zunächst mit Kohlendioxid betäubt und dann auf dem Rücken liegend in einem feinen Netz fixiert. Durch gezielte Stimulation der entsprechenden Drüsen beginnt das Tier, Seide zu produzieren.

maxon motor and bobbin

maxon Antrieb und Seidenspule

Präzises Aufwickeln dank maxon-Technologie

Die Seide wird an einer speziell entwickelten Spule befestigt und von einem maxon Antriebssystem kontrolliert aufgewickelt. Da die Spinne dem Aufwicklungsprozess nicht aktiv entgegenwirken kann, erfordert dieser eine fein abgestimmte Handhabung, um die empfindliche Struktur der Seide zu bewahren und ihre spätere Verwendung in komplexen Nervenreparaturen sicherzustellen.

“Die Seide ist ein extrem feiner Faden– dünner als ein menschliches Haar – daher ist es wichtig, die Spule mit höchster Präzision zu spannen”, erklärt Alex Woods. Da sich die Seide beim Spinnen von einer Flüssigkeit in einen Feststoff verwandelt und ihre Eigenschaften stark von den Aufrollbedingungen abhängen, ist eine genaue Kontrolle unerlässlich, um die gleichmäßige Qualität zu gewährleisten, die für eine effektive Nervenreparatur erforderlich ist. 

„Dank der präzisen Kalibrierung des Systems können wir die Aufwickelgeschwindigkeit exakt steuern. So behalten wir jederzeit den Überblick darüber, wie viele Fasern in welcher Länge gesammelt wurden und stellen sicher, dass sie sich in einem einwandfreien Zustand befinden“, erklärt Alex Woods.

Um eine gleichmäßige und wellenfreie Steuerung der Spule zu gewährleisten, kommt ein DC-Motor von maxon mit eisenloser Wicklung zum Einsatz – ergänzt durch ein geräuscharmes Getriebe, einen maxon-Encoder sowie einen maxon-Geschwindigkeitsregler.

Im Mittelpunkt des Prozesses steht der Drehzahlregler, der die tatsächliche Geschwindigkeit mit der Sollgeschwindigkeit abgleicht. Beide Werte werden von einem Datenlogger erfasst, um die exakte Seidenmenge zu dokumentieren – ein entscheidender Faktor für den kommerzielle Einsatz und die Einhaltung medizinischer Zulassungsrichtlinien.

Das Aufspulen erfolgt bei jeder Spinne über einen fest definierten Zeitraum. Dabei enthält jedes aufgewickelte Produkt eine festgelegte Anzahl von Seidenfasern, wodurch sich unterschiedliche Produktlängen gezielt sammeln lassen.

Gegenwärtig arbeitet Newrotex mit einer Kolonie von über 30 Spinnen, die in diesem Jahr vergrößert wurde. "Diese Sitzungen finden bei jeder Spinne etwa zweimal pro Woche statt, so bleibt genügend Zeit, damit sich die Seidenvorräte erneuern können und die Tiere nicht überlastet werden", sagt Alex Woods.

Die geerntete Seide auf der Spule

Einhaltung medizinischer Vorschriften

Entscheidend ist, dass die Seide in ein kontrolliertes und steriles Implantat umgewandelt werden muss, welches den  regulatorischen Anforderungen für Medizinprodukte gemäß ISO 13485 entspricht.

"Zusätzlich zur kontrollierten Aufwicklung können das Antriebssystem und der Spulenrahmen gereinigt und in einer sterilen Umgebung gehalten werden, während mit der Spinne gearbeitet wird", erklärt Alex Woods. “Um zu verhindern, dass die Spinne selbst die Reinraumstandards verletzt, kommen umweltkontrollierte Schutzhauben zum Einsatz. Nach dem Vorgang wird das Gerät gereinigt und das Antriebssystem sterilisiert”.

Newrotex plant umfangreiche klinische Studien am Menschen für das Jahr 2025 und möchte seine Nervenreparaturbehandlung ab 2027 den ersten Patienten anbieten. Langfristig hat die Entwicklung auch das Potenzial, auf die Regeneration des zentralen Nervensystems angewendet zu werden.

Bilder © Newrotex Ltd.  

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