maxon Story

«Eine Prothese wird nie perfekt sein».

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Ein kleines Start-up stellt gerade den Markt für Handprothesen auf den Kopf. Mit Innovationswillen, kompakten DC-Motoren und einer Tastfunktion.

Die Herausforderungen beginnen bereits beim Öffnen der Türe. Die menschliche Hand umschliesst den Griff, drückt ihn herunter und bewegt sich flexibel. Eine elektromechanische Handprothese dagegen ist steif. Wenn sich die Türe bewegt, führt das zu grossen Krafteinwirkungen auf den einzelnen Fingern. «Eine gute Prothese muss deshalb aus hochwertigen Materialien und Komponenten bestehen», davon ist Stefan Schulz überzeugt. Er ist Gründer und CEO von Vincent Systems, einem Start-up in der deutschen Stadt Karlsruhe mit zehn Mitarbeitenden. Und wenn es um Handprothesen geht, weiss Schulz Bescheid. Seine erste elektromechanische Prothese baute er 1999, als er noch am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) tätig war. Zehn Jahre später folgte der Wechsel in die Privatwirtschaft.

Inzwischen ist bereits die dritte Generation der Handprothesen von Vincent Systems erhältlich. «Sie ist leichter und kompakter als andere Modelle und wiegt praktisch gleich viel wie die menschliche Hand», so Schulz. In ihrer kleinsten Ausführung ist sie sogar für Kinder geeignet – der jüngste Träger ist gerade mal acht Jahre alt. Trotzdem, und das ist das Besondere, handelt es sich um eine bionische Hand. Heisst: Jeder einzelne Finger wird aktiv mit einem DC-Motor angetrieben, der Daumen sogar mit zwei Stück. Da sich die Motoren direkt im Finger und Daumen befinden, können bei Patient:innen auch einzelne fehlende Finger ersetzt werden. Und noch etwas macht die Hand von Vincent Systems besonders: Sie ist die erste kommerziell erhältliche Prothese, die den Tragenden ein Feedback gibt, wie stark sie jeweils zugreifen. Das geschieht mit kurzen Vibrationsimpulsen. Würde die Hand einfach gleichmässig vibrieren, könnte sich der Mensch schnell daran gewöhnen und das Signal nicht mehr wahrnehmen.

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Stefan Schulz, CEO von Vincent Systems, erklärt die Funktionsweise der neusten Handprothese.

«Die Welt der Prosthetik lag lange im Schneewittchenschlaf und ist heute ein Schlaraffenland für Ingenieure und Ingenieurinnen.»

Die Aufgabe von Stefan Schulz und seinen Kollegen ist nie fertig, und dessen ist er sich bewusst. Als Ingenieur will er eine mechatronische Handprothese entwickeln, die dem menschlichen Vorbild möglichst nahe kommt. «Aber egal, was wir auch für Innovationen konstruieren, es handelt sich im Vergleich zum menschlichen Vorbild im Endeffekt immer um einen Kompromiss. Das Produkt wird nie perfekt sein. Es geht immer noch besser.» Das entmutigt ihn keineswegs. Im Gegenteil: Es ist ihm Ansporn für seine tägliche Arbeit. Und wohl auch eines der Erfolgsgeheimnisse von Vincent Systems. Denn im Verlauf der noch jungen Firmengeschichte haben die Ingenieur:innen die Handprothese schon mehrfach komplett überarbeitet – um die Rückmeldungen der Prothesennutzenden einzubeziehen sowie aufgrund von neuen technischen Ansätzen. Und das scheint nicht einmal eine so grosse Sache gewesen zu sein, wenn man Stefan Schulz beim Erzählen zuhört. Als Ingenieur fühlt er sich sichtlich wohl in seinem Gebiet.

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Die meisten Armprothesen sind heute noch so aufgebaut wie in den Sechzigerjahren. Damals kamen erste Prothesen mit Motoren und mit myoelektrischen Steuerungen auf den Markt. Mittels zweier Elektroden an den noch vorhandenen Muskeln können die Tragenden entscheiden, ob sich die Greifer schliessen oder öffnen. Angetrieben werden meist nur Daumen und Zeigefinger. Und daran hat sich lange wenig geändert. Auch weil viele Tragende mit diesen einfachen Funktionen zufrieden waren. Deshalb sagt Stefan Schulz: «Die Welt der Prosthetik lag lange im Schneewittchenschlaf und ist heute ein Schlaraffenland für Ingenieure und Ingenieurinnen.» Er schätzt zwar die einfachsten Prothesenmodelle als robustes Hilfsmittel, ist aber überzeugt: «Den bionischen Prothesen gehört die Zukunft! Die technischen Möglichkeiten sind vorhanden, also sollten wir sie nutzen, um den Kund:innen einen hohen Grad an Freiheit zu ermöglichen.»

maxon Motoren eine Spur kräftiger

Gleichzeitig stellen Prothesen eine grosse technische Herausforderung dar, denn die verschiedenen Anforderungen widersprechen sich: hohes Drehmoment und hohe Geschwindigkeit bei kompakter Bauweise. Und das alles möglichst energiesparend. Entsprechend wichtig ist die Wahl der verbauten Elektromotoren. Vincent Systems setzt in seinen Händen bis zu sechs bürstenbehaftete DC-Motoren von maxon motor ein: so genannte DCX 10 Antriebe – die auch im ersten Mars-Helikopter verwendet werden – in Kombination mit modifizierten Planetengetrieben GP 10 A. «Sie sind kompakt und für unsere Anwendung die Motoren mit der derzeit höchsten Energiedichte», sagt Stefan Schulz. Zudem müssen die Antriebe etwas aushalten, fünf Jahre störungsfrei arbeiten. Obwohl sie jeden Tag auf viele Arten stark beansprucht werden. «Wir sind sehr zufrieden und haben vor, gemeinsam mit maxon die Elektromotoren weiter für unsere künftigen Prothesen zu modifizieren.»

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In jeder Handprothese sind sechs DCX 10 Motoren und sechs GP 10 A Getriebe verbaut.

Wenn jeder Finger einzeln bewegt werden kann, ergeben sich für die Tragenden viele Möglichkeiten. Zwölf Griffmuster stehen zur Verfügung, die alle relativ einfach über Muskelkontraktionen abgerufen werden können – mit einem langen Halten des Muskelsignals oder einem Doppelimpuls zum Beispiel. Wichtig war Stefan Schulz, dass die Patient:innen dafür nicht die gesunde Hand zu Hilfe nehmen müssen. Denn: «Eine Handprothese soll die Tragenden unterstützen und nicht die Aufmerksamkeit der gesunden Hand beanspruchen.» Die meisten Kund:innen kommen schon nach einer halben Stunde gut mit der Bedienung zurecht. Bis sie die Prothese wirklich intuitiv steuern können, dauert es einige Wochen oder Monate. Dann können sie Fahrrad fahren, Schuhe binden, rohe Eier halten – und natürlich auch Türen öffnen.    

Bildrechte
maxon Group/Karin Mertens

 

Autor/in: Stefan Roschi

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